Ein Kopf – Zwei Sprachen

Mehrsprachigkeit in Forschung und Therapie

Bericht von Agnes Groba

Unter dem Motto "Ein Kopf – zwei Sprachen: Mehrsprachigkeit in Theorie und Praxis" fand am 22.11.2008 auf dem Universitätscampus Griebnitzsee das zweite durch den vpl organisierte Herbsttreffen Patholinguistik statt. Zu dem Schwerpunktthema referierten in drei Hauptvorträgen Prof. Dr. Rosemarie Tracy von der Universität Mannheim, Dr. Michael Wahl von der Klinik für Neurologie der Charité Berlin und Dr. Vassilia Triarchi-Herrmann vom Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München. Michael Wahl vertrat hierbei Prof. Dr. Isabell Wartenburger von der Universität Potsdam, die der Tagung leider nicht beiwohnen konnte, sodass ihr geplanter Vortrag zu neuronalen Grundlagen der bilingualen Sprachverarbeitung ausfallen musste. Nach der Mittagspause folgten im Spektrum Patholinguistik fünf Kurzvorträge promovierter Patholinguistinnen, welche aktuelle Forschungsergebnisse aus verschiedenen Themengebieten vorstellten. Einen weiteren Programmpunkt bildete die Posterbegehung in den Pausen zwischen den Vorträgen.

Wie auch schon im letzten Jahr konnte sich das Organisationsteam über eine Vielzahl an Besuchern aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern freuen. Sowohl AbsolventInnen der Patholinguistik aus Praxis und Forschung, als auch KollegInnen verwandter Berufsgruppen und Studierende der Patholinguistik sowie anderer sprachtherapeutischer Studiengänge nutzten auf dem Herbsttreffen die Möglichkeit, sich über die präsentierten Forschungsthemen zu informieren und auszutauschen.

Nach den einleitenden Begrüßungsworten durch den Vorstandsvorsitzenden des vpl, Michael Wahl, führte Oda-Christina Brandt die Zuhörer durch das Vormittagsprogramm.
Prof. Dr. Rosemarie Tracy begann die Vortragsreihe mit einer Präsentation zu dem Thema "Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit: Bedingungen, Risiken und Chancen", indem sie zunächst mit einigen negativ behafteten Mythen über die individuelle Mehrsprachigkeit aufräumte und hiermit den Grundstein für eine wertfreie Betrachtung des Phänomens Bilingualismus legte. Anhand von verschiedenen (teils sehr amüsanten) Fallbeispielen von erwachsenen L2-Lernern verdeutlichte die Referentin das im Bilingualismus oft zu beobachtende Phänomen der Sprachmischung. Dieses führte sie auf eine Interaktion der beteiligten Sprachen zurück, welche in Form von parallelen Schichten miteinander in Kontakt kommen könnten, was z. B. in einem Satz mit englischer Syntax und deutschem Lexikon resultieren könne. Im Anschluss daran führte Frau Tracy den Zuhörern vor Augen, dass eine Einstufung von Äußerungen bilingual aufwachsender Kinder als Sprachmischformen jedoch nicht vorschnell getroffen werden dürfe. Vielmehr ähneln die Produktionsmuster bilingualer Kinder häufig jenen, die auch im monolingualen Spracherwerb gefunden werden. Bilingual aufwachsende Kinder sind schon sehr früh in der Lage, die beiden zu erwerbenden Sprachen zu trennen, sodass Interferenzphänomene eher im Bereich der Performanz, nicht aber zwingend innerhalb der Kompetenz zu finden seien. Asynchrone Entwicklungsfortschritte in den beiden Sprachen, die Mischformen begünstigen können, wurden hierbei zudem nicht als ein Risiko des bilingualen Spracherwerbs eingestuft. Im Folgenden stellte Rosemarie Tracy eine eigens durchgeführte Studie vor, welche zum Ziel hatte, den frühen L2-Erwerb in Relation zum L2-Erwerb bei Erwachsenen, zu sprachentwicklungsgestörten L1-Kindern und zum unauffälligen Erstspracherwerb einzuschätzen. Insbesondere die Produktionsdaten im Bereich der Verbflexion und Verbstellung interpretierte die Referentin als Indizien für eine Parallelität des frühen L2-Erwerbs mit dem unauffälligen Erstspracherwerb. Bei adäquaten Sprachförderungsbedingungen sieht Rosemarie Tracy den frühen Erwerb mehrerer Sprachen somit nicht als Risiko, sondern als Chance an und macht in diesem Sinne auf die besonders gut ausgebildeten metasprachlichen Fähigkeiten bilingualer Kinder aufmerksam: "Warum sagt man eigentlich nicht Thank you very DRECK statt Thank you very MUCH?" [Das englische much bildet ein Homophon zu dem deutschen Wort Matsch, welches wiederum semantisch relatiert ist zu Dreck] (Christian, 6 Jahre).
Im folgenden Vortrag erörterte Dr. Michael Wahl die spannende Frage, ob es sich im Falle von Mehrsprachigkeit um "Zwei Sprachen = zwei Systeme?" handele oder um ein einziges geteiltes System und gab hiermit einen "Überblick über die neuronalen Grundlagen" von Mehrsprachigkeit. Nachdem der Referent kurz auf mögliche experimentelle Methoden zur Erforschung dieser neuronalen Grundlagen eingegangen war, stellte er den Ansatz Michael Ullmans jenem von Isabell Wartenburger und anderen Autoren gegenüber. Michael Ullman (2001) nehme an, dass eine spät erlernte Zweitsprache von anderen zerebralen Strukturen verarbeitet wird als jene der Erstsprache, wohingegen Isabell Wartenburger et al. (2003) zeigen konnten, dass sowohl frühe als auch späte L2-Lerner die Zweitsprache in identischen Hirnarealen verarbeiten. Zur Unterstützung der These, dass die Zweitsprache kognitiv nicht in einem zusätzlichen, sondern in demselben neuronalen System wie die Erstsprache repräsentiert wird, führte Michael Wahl abschließend noch die Befunde einer Studie von Friederici et al. (2002) an.
Im letzten Hauptvortrag referierte Dr. Vassilia Triarchi-Herrmann zu dem Thema "Zur Förderung und Therapie bei Mehrsprachigkeit". Obwohl die kindliche Sprachentwicklung unter adäquaten Bedingungen durch den Erwerb mehrerer Sprachen positiv geprägt sein kann, weist eine Vielzahl an mehrsprachigen Kindern Schulleistungsschwierigkeiten und Spracherwerbsprobleme auf. Diesen soll durch vorschulische sowie schulbegleitende Sprachfördermaßnahmen entgegengewirkt werden, wie sie in verschiedenen Bundesländern in Form von strukturierten Programmen bereits existieren. Vassilia Triarchi-Herrmann bemängelte an diesen Programmen jedoch, dass sie ausschließlich die Förderung der Zweitsprache Deutsch beinhalten und die bilingualen sowie bikulturellen Ressourcen der Kinder meist nicht miteinbezogen werden. Durch die Aktivierung und Vernetzung sprachlicher, kultureller und familiärer Ressourcen sollten diese Programme jedoch nachhaltig verbessert werden können. Angebunden an ein gesamtes pädagogisches Förderkonzept sollte hierbei zudem eine Verbindung mündlicher und schriftlicher Fertigkeiten fokussiert werden. Im Bereich der Diagnostik und Therapie von mehrsprachigen Kindern machte die Referentin darauf aufmerksam, dass Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern häufig zu spät erkannt werden und die Kinder daher über lange Zeit nicht adäquat gefördert werden. Zu kritisieren sei, dass die Diagnostik in den meisten Fällen anhand von Instrumenten erfolgt, die für den monolingualen Spracherwerb konstruiert wurden, und dass die theoretische Ausbildung der Sprachtherapeuten häufig nur wenige Inhalte zum bilingualen Spracherwerb beinhaltet. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen nach Vassilia Triarchi-Herrmann, dass sich bilinguale Kinder mit SES ähnlich verhalten wie monolinguale Kinder mit SES und dass bilinguale Kinder ohne SES starke Erwerbsparallelen zu monolingualen ungestörten Kindern zeigen. Eine adäquate Diagnostik sollte daher "monolingual orientiert, unter Berücksichtigung bestimmter lebensweltlicher, sozialer und intraindividueller Bedingungen des Zweitspracherwerbs" erfolgen. Hierbei sollten zudem die Erstsprache als auch die emotionale Entwicklungsebene berücksichtigt werden.

Weitere Informationen zum Schwerpunktthema Mehrsprachigkeit konnten die Besucher vier verschiedenen Postern zu Studien mit bilingualen Probanden entnehmen. Hierunter fiel eine Studie von Annegret Klassert, Natalia Gagarina und Christina Kauschke zu "lexikalischen Fähigkeiten bilingualer Kinder". Iris Eicher, Barbara Tsamaki, Zeynep Akkaya und Esmeralda Castillo präsentierten eine Studie zum "Spracherwerb bei bilingualen Kindern". "Die Auswirkung einer simultan bilingualen Spracherwerbssituation auf die Anwendung des Mutual Exclusivity Constraints im Erwerb von Adjektiven" wurde von Agnes Groba und Barbara Höhle untersucht und Barbara Mietsch präsentierte eine Studie zur "Übertragung von Therapieerfolgen bei mehrsprachigen Aphasikern von behandelten auf nicht behandelte Sprachen".

Am Nachmittag folgten unter dem Programmschwerpunkt Spektrum Patholinguistik fünf Kurzvorträge aus der patholinguistischen Forschung, die von Judith Heide anmoderiert wurden.
Zunächst stellte Dr. Angela Grimm einige Ergebnisse aus ihrer Dissertation zum Thema "Prosodische Entwicklung im Erstspracherwerb des Deutschen" vor. Im Wesentlichen beschrieb sie die prosodische Entwicklung innerhalb des zweiten Lebensjahres auf fünf Stufen, wobei sie hierbei eine sehr frühe Differenzierung zwischen Simplizia und Komposita beobachten konnte. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die prosodische Struktur des Zielwortes die Struktur des Outputs bestimmt, und lassen sich im Rahmen der Optimalitätstheorie erklären.
Im folgenden Vortrag mit dem Titel "Wie Lesestrategien Effekte der kognitiven und okulomotorischen Kontrolle modulieren: Eine Blickbewegungsstudie" führte Dr. Christiane Wotschack zunächst in die Grundlagen der Blickbewegungsmethodik ein. Sie stellte zudem eine Studie vor, in welcher die Rolle der Lesestrategie auf okulomotorische und kognitive Effekte beim Lesen untersucht wurde. In der Studie wurden die Hypothese bestätigt, dass die Wortvorhersagbarkeit, welche die Fixationsdauer beeinflusst, ein Maß für die Verarbeitungstiefe darstellt: bei semantisch tiefer Lesestrategie kommt es zu einem starken Wortvorhersagbarkeitseffekt, wohingegen oberflächliches Korrekturlesen nur zu einem schwachen Effekt dieser Art führt.
Sylvia Kulik zeigte anhand von EKP-Experimenten, "..., dass einen der Satzbau immer wieder überraschen kann". Sie untersuchte durch die Topikalisierung von Akkusativ-Objekten konstruierte Scramblingstrukturen, welche innerhalb von neutralen Kontexten zu einer Negativierung im EKP führten. In nicht neutralen Kontexten hingegen konnte keine solche Negativierung beobachtet werden. Sofern das topikalisierte Akkusativobjekt jedoch anhand eines indefiniten Artikels kontextuell vorerwähnt wurde, ließ sich wiederum eine Negativierung messen. Sylvia Kulik schlussfolgerte einerseits, dass Vorerwähntheit im Kontext den Nachteil von Scramblingstrukturen nicht unbedingt aufhebt und stellte andererseits fest, dass eine Präferenz für die pronominale Interpretation noch vor der Präferenz einer kanonischen Interpretation bestehe.
Der folgende Vortrag von Simone Mätzig mit dem Titel "Intakte Syntax und defizitäres Spell-out: Präpositionen bei Broca- und anomischer Aphasie" beleuchtete die defizitäre Verarbeitung von Präpositionen bei aphasischen Patienten. Eine Fehleranalyse der Produktionsdaten führte zu dem Ergebnis, dass die von den fünf untersuchten Patienten falsch eingesetzten Präpositionen stets aus derselben syntaktischen Kategorie stammten und daher als Indiz für eine intakte syntaktische Verarbeitung zu interpretieren seien. Im Rahmen des "compositional approach" führte die Referentin die Ursache für den fehlerhaften Gebrauch von Präpositionen auf eingeschränkte "spell-out rules" zurück.
Den Abschluss der Vortragsreihe bildete die Präsentation einer Evaluationsstudie zum Thema "Interdisziplinäre Therapie bei tracheotomierten Patienten mit schwerer Dysphagie" durch Dr. Ulrike Frank. Im Rahmen ihrer Dissertation konnte die Referentin anhand einer retrospektiven Datenanalyse zeigen, dass ein interdisziplinärer Behandlungsansatz (Kombination von Entblockungsintervallen und Schlucktherapie) bei gleicher Effektivität zu einer schnelleren Dekanülierung tracheotomierter Patienten führt und daher effizienter ist als ein konventioneller intradisziplinärer Ansatz. Zudem ergab die explorative Datenanalyse, dass signifikante Verbesserungen in allgemeinen funktionellen und frühfunktionellen Fähigkeiten erst nach der Dekanülierung eintreten. Insbesondere innerhalb der ersten 16 Wochen nach der Dekanülierung sind deutliche Verbesserungen im Bereich des oralen Kostaufbaus zu erwarten.

Die Behandlung von Schluckstörungen wurde ebenfalls auf dem Poster "Dysphagietherapie bei einem Patienten mit Trachealkanüle" von Ivette Fischer, Judith Heide und Petra Moedebeck thematisiert. Im Pausenraum konnten sich die Besucher zudem anhand weiterer interessanter Posterbeiträge über verschiedene Forschungsgebiete informieren: Caroline Schröder und Nicole Stadie präsentierten eine Einzelfallstudie zu dem Thema "Phonologische Verarbeitung bei kindlicher Aphasie". Von Marion Wittler, Karin Berendes, Stephanie Gottal, Britta Grabherr, Jennifer Zaps und Martin Ptok wurde ein Vergleich zweier Therapisettings hinsichtlich "Compliance in der LRS-Therapie" vorgestellt. Eine Blickbewegungsstudie mit dem Ziel, die "Online-Satzverarbeitung kanonischer und nicht-kanonischer Sätze bei Agrammatismus" zu untersuchen, präsentierten Sandra Hanne, Irina Sekerina, Shravan Vasishth, Frank Burchert und Ria de Bleser und ein weiterer Beitrag aus dem aphasischen Spektrum stammte von Barabara Kleissendorf, welcher "Quantitative und qualitative Aspekte semantischer Wortflüssigkeit bei Menschen im höheren und hohen Lebensalter mit und ohne Verdacht auf leichte kognitive Beeinträchtigungen" beleuchtete.

Einmal mehr konnte das Herbsttreffen seinem Ziel gerecht werden, den Besuchern ein abwechslungsreiches und informatives Programm in einem diskussionsanregenden und – nicht zuletzt – angenehmen Rahmen zu bieten. Hierfür sei insbesondere den Hauptorganisatoren Michael Wahl, Judith Heide, Sandra Hanne, Tom Fritzsche und Oda-Christina Brandt sowie auch ihren Helfern an dieser Stelle herzlich gedankt!