Besonders behandeln?
Sprachtherapie im Rahmen primärer Störungsbilder
Text: Josephine Messer
Fotos: Caroline Magister & Antje Kösterke-Buchardt
Am 15.11.2014 war es wieder soweit: Das Herbsttreffen Patholinguistik fand in Potsdam zum achten Mal statt. 250 Interessierte besuchten die Vorträge zu dem Thema „Besonders behandeln? – Sprachtherapie im Rahmen primärer Störungsbilder“.
Anne Adelt und Constanze Otto führten die Zuhörerinnen und Zuhörer durch das Programm und begrüßten zu Beginn die Referentin Dr. Maren Aktas, die in ihrem Vortrag zur entwicklungsorientierten Sprachdiagnostik bei Kindern mit geistiger Behinderung erste Antworten auf die Leitfrage des Tages gab. Sollten Kinder mit geistiger Behinderung besonders diagnostiziert werden? Dr. Aktas betonte, dass wir auf der einen Seite – wie auch in der Arbeit mit Kindern mit spezifischer Sprachentwicklungsstörung – diagnostische Standards einhalten, theorie- und entwicklungsbasiert arbeiten, uns am typischen Sprachentwicklungsverlauf orientieren sowie sprachliche Stärken und Schwächen des Kindes erfassen sollten. Andererseits besteht eine große Heterogenität innerhalb der Gruppe der Kinder mit geistiger Behinderung und das chronologische und mentale Alter können kaum als Orientierungsgröße dienen. Doch nicht nur die Auswahl der Testverfahren stellt eine Herausforderung dar, sondern auch der Umgang mit dem Verhalten des Kindes in der Testsituation und das Aufrechterhalten seiner Motivation. Dr. Aktas befasst sich als Entwicklungspsychologin seit vielen Jahren mit dieser Problematik und hat einen theoretischen Rahmen entwickelt, der die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit geistiger Behinderung einbezieht und der hervorhebt, wie behinderungstypische Barrieren bei dem Erwerb von Sprache überwunden und sprachrelevante Fähigkeiten wie die Verarbeitung von Sinneseindrücken, Gedächtnis- und Denkfähigkeiten berücksichtigt werden können. Dr. Aktas wies darauf hin, dass neben dem Einhalten wichtiger Parameter innerhalb der Diagnostik dennoch Abweichungen möglich sind, wenn sie entsprechend dokumentiert werden, wie zum Beispiel das Vereinfachen von Testinstruktionen durch langsameres Sprechen, Gestik und Mimik. Darüber hinaus sollten in der Auswertung und Interpretation der Diagnostikergebnisse das Ermitteln des Entwicklungsalters (An welcher Stelle entspricht der Rohwert einem Wert im Durchschnittsbereich?) und der verstärkte Einsatz von Videoaufzeichnungen nicht außer Acht gelassen werden. Dr. Aktas ermutigte die Zuhörer abschließend, vorhandene Diagnostikmaterialien nicht voreilig als zu schwer einzustufen, sondern diese auszuprobieren und den Kindern etwas zuzutrauen.
Frau Juliane Succow referierte zum Thema Sprachanbahnung bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung. Sie arbeitet im Autismus-Therapie-Zentrum Berlin, in dem etwa 90 Kinder gefördert werden. Das besondere, sehr heterogene Störungsbild der autistischen Kinder macht auch die Therapie zu etwas Besonderem. Durch ihr meist fehlendes Interesse an sozialen Stimuli und die fehlende Lernmotivation müssen sie erst lernen, soziale Interaktion als etwas Besonderes wahrzunehmen. Alle verbalen und nonverbalen Kommunikationsversuche der Kinder werden direkt verstärkt und alles in der Therapie Gelernte muss auf das Umfeld und in den Alltag übertragen werden. Frau Succow machte deutlich, dass die Therapieziele und Methoden wie ein Schlüssel zu den Merkmalen des Kindes passen müssen, was oft mit einem mühsamen Weg und dem Ausprobieren vieler Methoden verbunden sei.
In der sich anschließenden Kaffeepause gab es wie immer Zeit für das Begutachten der ausgestellten Poster und den regen Austausch miteinander.
„Miteinander anstatt nebeneinander“ war das Thema des dritten Hauptvortrages von Dr. Barbara Giel (Zentrum für Unterstützte Kommunikation Moers), die über die sprachtherapeutische Förderung bei Kindern mit Down-Syndrom berichtete. Das Besondere der Therapie sei die systemische Arbeit am „runden Tisch“, das regelmäßige Zusammentreffen von Eltern, Fachpersonal, Kitas und Schulen, bei denen konkrete, realistische Ziele formuliert werden. In der heutigen Gesellschaft sei noch viel Arbeit notwendig, so Dr. Giel, um Kindern mit geistiger Behinderung ein Umfeld zu schaffen, in dem sie auch ohne Lautsprache und mittels Gebärden oder elektronischer Hilfsmittel kommunizieren können.
Dr. Katharina Dressel berichtete im Anschluss aus dem Bereich der erworbenen Sprachstörungen über die Klassifikation und Therapie der primär progressiven Aphasie – eine Erkrankung, bei der es zu einem Abbau der Sprache kommt. Die besondere sprachtherapeutische Aufgabe besteht darin, den kontinuierlichen Sprachabbau mit in die Therapie einzubeziehen. Das bedeutet, nach einer zunächst direkten Therapie den Übergang von der unabhängigen in die abhängige Kommunikation der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen und ihnen die Kommunikation in der indirekten Therapiephase durch eine interdisziplinäre Arbeit mit ihrem Umfeld zu ermöglichen. Ziel ist es, die Abnahme der sprachlichen Fähigkeiten zu verlangsamen und die Kommunikationsfähigkeit durch ständige Wiederholung und Anwendung des Geübten so lange wie möglich zu erhalten.
Nach der Mittagspause und dem Einsammeln der letzten Stimmzettel für den Posterpreis folgten die Kurzvorträge aus dem Spektrum Patholinguistik – der patholinguistischen Praxis und Forschung. Den Anfang machte Sandra Hanne (Universität Potsdam) mit neuen Erkenntnissen aus Eye-Tracking-Studien zum Thema Satzverständnisstörungen bei Aphasie. Die Patientinnen und Patienten haben demnach Probleme mit der Verarbeitung von reversiblen nicht-kanonischen Sätzen, in denen das Objekt vorangestellt ist. Die Blickbewegungsdaten können dabei genaueren Aufschluss über die Verarbeitung dieser Sätze geben. Für die Behandlung von Satzverständnisstörungen empfiehlt die Referentin eine Mapping-Therapie, die zum Beispiel als Satz-Bild-Zuordnung oder auch als Ausagieren gestaltet werden kann.
Jeannine Schwytay (Universität Potsdam) gab den Zuhörern einen Einblick in das Lernen von Minimalpaaren und was es über Asymmetrien im frühen rezeptiven Lexikonerwerb verrät. In ihrer Studie konnten sprachunauffällige 20 Monate alte Kinder Lautkontraste beim Lernen von Minimalpaaren unterscheiden, wenn diese sich am Wortanfang befanden, nicht aber, wenn die Kontraste wortmedial auftraten. Es zeigte sich außerdem, dass bei Kontrasten am Wortanfang Pseudowörter mit vokalischen Kontrasten signifikant besser gelernt wurden als Pseudowörter mit konsonantischen Kontrasten.
In dem Kurzvortrag von Sarah Breitenstein (Universität Potsdam) wurde das Thema „Hörstörungen“ aufgegriffen. In einer Priming-Studie zur phonologischen Verarbeitung wurden 14 normalhörende und 14 hörbeeinträchtigte Kinder getestet. Die Ergebnisse lassen erkennen, dass sich bei beiden Gruppen ein Primingeffekt zeigte, wenn der Prime den gleichen Silbenanlaut wie das Zielwort hatte. Hinsichtlich der Verarbeitung der lautlich ähnlichen Wörter bestand also keine Evidenz für Unterschiede zwischen den Kindern mit normalem und beeinträchtigtem Gehör.
Die Vortragsrunde endete mit Dr. Elisabeth Fleischhauer (Universität Potsdam), die zur Grammatiktherapie bei mehrsprachigen Kindern referierte. Das Wissen darüber, dass die Erst- und Zweitsprache nicht vollkommen unabhängig sind und Kompetenzen von einer Sprache in die andere übertragen werden können, wirft die Frage auf, ob ein bilinguales Kind in beiden Sprachen von der Therapie profitieren kann. Dr. Fleischhauer schlägt vor, sprachliche Aspekte zu ermitteln, die in der zu therapierenden Zweitsprache und in der Erstsprache ähnlich ausgeprägt sind und diese in der Sprachtherapie nach dem Patholinguistischen Ansatz zu berücksichtigen.
Das Herbsttreffen war auch dieses Jahr eine gelungene Veranstaltung, die uns insbesondere gezeigt hat, wie individuell Kinder und Erwachsene mit Sprachstörungen im Rahmen primärer Störungsbilder sind und dass es eine besondere Herausforderung ist, diagnostische und therapeutische Schritte entsprechend abzuleiten. Eine herzliche Gratulation geht an die diesjährigen Gewinnerinnen der Posterpreise!
Das 9. Herbsttreffen Patholinguistik wird voraussichtlich am 14.11.2015 wieder in Potsdam stattfinden.
Die Gewinnerinnen des Posterpreises:
Platz 1
Elisa Rath, Judith Heide, Antje Lorenz & Isabell Wartenburger (Universität Potsdam & Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Die Repräsentation von Komposita im mentalen Lexikon bei einem Patienten mit primär progressiver Aphasie
Platz 2
Sabine Peiffers & Ulrike Frank (Universität Potsdam)
Der Einfluss von Körperparametern auf das Schluckvolumen bei gesunden Erwachsenen
Platz 3
Mady Thonicke & Ulrike Frank (Universität Potsdam)
Biofeedback in der Dysphagietherapie: Unterstützung therapeutischer Maßnahmen durch Oberflächen-Elektromyographie (sEMG)